„Die Polizei nahm den Täter vor wenigen Stunden fest.„
So? Noch nicht mal vor dem Haftrichter gewesen aber schon vorverurteilt? Das darf nicht sein. Denn solange es keinen Gerichtsprozess gab, der mit einem Schuldspruch endete, halten wir uns an einen der wichtigsten Grundsätze eines Rechtsstaates:
Es gilt die Unschuldsvermutung.
„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ (Art. 11 Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Vereinte Nationen, 10. Dezember 1948)
Auch wenn es gerne als sperrig oder verzichtbar angesehen wird: Der Zusatz „mutmaßlich“ ist absolut notwendig. Alternativ kann auch vom „Verdächtigen“ oder (ggfls.) „Beschuldigten“ gesprochen werden. Das ist nicht nur der journalistischen Sorgfalt wegen geboten. Wer vorverurteilt, steuert auf weitreichende und unangenehme Folgen zu. Es hat schon reichlich Fälle gegeben, in denen Anwälte der Tatverdächtigen gegen Redaktionen vorgingen.
Ähnlich liegt die Sache auch bei der Veröffentlichung von Fotos und der Nennung von Namen. Der Verdächtige hat nämlich ein Persönlichkeitsrecht. Und – das wird oft vergessen – Opfer von Straftaten haben das auch. Grundsätzlich haben auch ihre Namen oder Bilder von ihnen nichts in der Berichterstattung verloren. Nur in wenigen Ausnahmefällen darf darauf verzichtet werden, Gesichter unkenntlich zu machen oder Namen zu verändern bzw. abzukürzen. Das ist im Pressekodex geregelt:
„Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung.“
Die Einzelheiten sind im Pressekodex in der Ziffer 8 aufgeführt.
(Bild: Udo Stiehl)
Ein Täter kann gelegentlich auch vor dem Urteil als Täter bezeichnet werden – wenn er etwa in flagranti dabei erwischt wird, wie er einen anderen zu Tode bringt. Das Urteil stellt dann lediglich – bzw. darüber hinausgehend – fest, ob er ein Mörder, ein Totschläger oder keines von beiden ist.
Heißt das, ich muss Stalin und Hitler immer als mutmaßliche Täter bezeichnen, weil gegen sie nie ein Prozess wegen ihrer Verbrechen stattgefunden hat und die Aufarbeitung lediglich im Rahmen der Forschung erfolgte?
Die Anwendung der Unschuldsvermutung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in dem Zusammenhang ist gewagt. Dass beides Privatpersonen und private Unternehmen ohne weiteres bindet, ist nämlich Unsinn. Beides richtet sich in erster Linie an Staaten.
Es stimmt allerdings, dass die Presse viel zu oft vorschnell von Tätern spricht. Auch wenn dies in Einzelfällen zulässig sein kann.