Frauen und Kinder zuerst?

„…unter den Opfern sind auch Frauen und Kinder.“ 

Quer durch alle Medien und Formate ist diese Formulierung zu hören und zu lesen. Was steckt dahinter? Es gibt eine Menge unterschiedlicher Motive, die Formulierung zu benutzen. Sie reichen von reiner Kriegspropaganda, politischen Zielen, reißerischer Berichterstattung bis hin zu reiner Situationsbeschreibung und journalistischer Detailarbeit zur Erläuterung von Hintergründen. Wie gehen wir Redakteure damit um?

Kriegspropaganda und politische Ziele

Beginnen wir mit dem Blick auf die Quellen. In der Regel stehen bei kriegerischen Auseinandersetzungen kaum objektive Quellen zur Verfügung. Die Kriegsparteien veröffentlichen Pressemitteilungen und erläutern auf Pressekonferenzen ihre Sicht – mit ihren Worten. Dazu sind in diesem Blog bereits unter dem Titel „Do you speak NATO“ zwei Artikel erschienen, die sich mit „Inside Attacks“ und „US-Beratern“ befassen. Dass in NATO-Veröffentlichungen immer wieder auch auf „Frauen und Kinder“ unter den Opfern verwiesen wird, soll den Kriegsgegner in einem besonders grausamen Licht erscheinen lassen. „Frauen und Kinder“ fungieren in diesem Fall meist als Synonym für Unschuldige, die ohne Beteiligung am Kriegsgeschehen ihr Leben verloren. Wie bespielsweise in diesem Statement des NATO-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer vom 31. August 2005:

I am profoundly saddened by the enormous loss of life today in Baghdad. This tragedy was the direct result of terrorism; hundreds of innocent people, mostly women and children, have died because of the fear and panic that terrorists are sowing in Iraq.

Der NATO-Generalsekretär insinuiert hier, es habe einen Angriff seitens irakischer Terroristen gegeben. Was am 31. August 2005 in Bagdad geschah, war aber kein Angriff. Das Gerücht, es befinde sich ein Selbstmordattentäter in ihren Reihen, versetzte eine Pilgergruppe schiitischer Gläubiger auf einer Brücke im Norden der Stadt in eine Massenpanik, wie die NEW YORK TIMES berichtete:

More than 950 people were killed and hundreds more injured Wednesday morning when rumors of a suicide bomber provoked a frenzied stampede in a procession of Shiite pilgrims as they crossed a bridge in northern Baghdad, government and hospital officials said.

Und DER SPIEGEL zitiert in diesem Zusammenhang in einem Artikel vom 1. September 2005 – also einem Tag später:

Die Massenpanik sei die „schockierendste und fürchterlichste Tragödie, die von Terroristen verursacht worden ist“, sagte der britische Außenminister Jack Straw im Namen der gesamten EU.

Was seitens der NATO also offiziell als „direct result of terrorism“ bezeichnet wird, mit Verweis auf  „hundreds of innocent people, mosty women and children“ und was von Jack Straw als die „schockierendste und fürchterlichste Tragödie, die von Terroristen verursacht worden ist“, bezeichnet wird, war ein tragisches Unglück.  So funktioniert Kriegspropaganda – in diesem Fall gepaart mit politischen Interessen.

Reißerische Berichterstattung

„Frauen und Kinder unter den Opfern“ sind häufig auch ein zweifelhaftes Stilmittel. Unter der Überschrift „Horror-Unfall in Duisburg“ berichtet BILD-ONLINE am 9. Januar 2013 von einem LKW, der verunglückt und in eine Bushaltestelle fährt und umkippt:

Zwei Schulmädchen und zwei Frauen wurden schwer verletzt.

Der Berliner TAGESSPIEGEL berichtet am 09. Dezember 2012 über ein Flugzeugunglück in Hessen. Dort waren zwei Privatmaschinen in der Luft zusammengestoßen:

Mindestens sieben Menschen sind bei der Kollision zweier Kleinflugzeuge in Hessen ums Leben gekommen. Darunter seien auch drei Kinder, teilten Polizei und Feuerwehr nach ersten Erkenntnissen mit.

Zusätzlich wird die Meldung übertitelt:

Sieben Tote bei Flugzeug-Kollision – Kinder unter Opfern

Und damit diese Information auch wirklich nicht übersehen wird, gleich im Teaser-Text noch einmal:

Unter den Opfern sind auch Kinder.

Nur zwei Beispiele von vielen. Und wenig verwunderlich: Die Trefferquote steigt mit der Größe der Buchstaben auf dem Titelblatt.

Wie heben sich so genannte „Qualitätsmedien“ nun von dieser Form von Propaganda oder Sensationslust ab?

Kaum. Das ergibt die Stichprobe in Berichten über das oben genannte Flugzeugunglück in Hessen. Der HESSISCHE RUNDFUNK meldet:

Bei dem Unglück waren am Samstag acht Menschen gestorben.

Erst im mittleren Teil des Berichts wird dann erwähnt:

Nach den bisherigen Ermittlungen saßen in beiden Maschinen Familien mit Kindern.

Der HR nutzt die toten Kinder zumindest nicht, um damit der Geschichte einen besonders tragischen Aufhänger zu geben.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG dagegen sehr wohl:

Warum krachen bei klarer Sicht zwei Kleinflugzeuge in der Luft zusammen? Nach dem Unglück in Hessen mit acht toten Kindern und Erwachsenen beginnt die schwierige Ursachenforschung.

So schreibt die FAZ am 9. Depzember 2012 auf ihrer Internetseite. Die Kinder werden hier sogar vor den Erwachsenen erwähnt. Einen Tag später rücken die Kinder mit Verweis auf die inzwischen erfolgte Identifizierung der Opfer sogar in die Überschrift:

Kinder und Eltern Opfer des Flugzeugunglücks

Warum also scheint vielen Redaktionen die Erwähnung von Frauen und Kindern unter den Opfern so wichtig? Ist es nur zweifelhaftes Stilmittel? Sitzen wir unreflektiert mancher Kriegspropaganda auf? Sind Frauen und Kinder zum Synonym für „unschuldige Opfer“ geworden?

Ich kann die Fragen nicht schlüssig beantworten. Im Zuge der Recherche ist mir jedoch aufgefallen, dass die umgekehrte Formulierung „unter den Opfern waren auch Männer“ nicht zu finden ist.

(Bild: Susanne Peyronnet)

Über udostiehl

Redakteur und Sprecher