Offenbar hat es den Anschein, dass es so scheint

Offenbar ist es wieder einmal an der Zeit, über Begriffe zu sprechen, hinter denen sich Nachrichtenredakteure nur zu gerne verstecken, wenn sie nichts Genaues wissen. Das kommt oft genug vor. „Schreib‘ doch offenbar ‚rein, dann geht das schon“, heißt es dann schnell. Und weil der Griff in die Synonym-Kiste in aller Eile manchmal auch daneben geht, hat es laut Manuskript „scheinbar einen Angriff gegeben“. Das sollten wir uns anscheinend noch einmal ansehen:

„Die türkische Regierung geht offenbar weiter gegen angebliche Gegner in der Justiz vor“,

meldet tagesschau.de und beruft sich als Quelle auf Berichte türkischer Medien. In diesem Satz sind gleich zwei Vorsichtsmaßnahmen der Redaktion untergebracht: Es liegen keine bestätigten Informationen darüber vor, es gibt aber ernstzunehmende Hinweise in Form mehrerer Medienberichte aus dem Land. Deshalb ist es wichtig, mit dem Zusatz „offenbar“ auf diese unsichere Quellenlage hinzuweisen und keine falsche Tatsachenbehauptung aufzustellen. Wer auf das offenbar verzichten möchte, ersetzt es durch die direkte Nennung der Quelle, also:

Die türkische Regierung geht Medienberichten zufolge weiter gegen angebliche Gegner der Justiz vor.“

Die zweite Vorsichtsmaßnahme ist die Definition der „Gegner“ der türkischen Regierung. Die Redaktion vermeidet durch die Formulierung „angebliche Gegner„, sich mit der Position der türkischen Regierung gemein zu machen und kommt damit ihrer Sorgfaltspflicht nach. Denn bei den angeblichen Gegnern handelt es sich u.a. um Staatsanwälte, die in einem Korruptionsskandal ermitteln wollen, in den auch die Regierung verstrickt sein soll. Damit gehen sie nur ihrer Aufgabe in einem Rechtsstaat nach – aus Sicht der Regierung jedoch sind sie zu Gegnern geworden.

„Offenbar“ und „angeblich“ sind also beides Begriffe, die sich im täglichen Nachrichtengeschäft kaum vermeiden lassen. Nur durch solche Abgrenzungen gelingt es, die gebotene Neutralität in der Berichterstattung zu behalten.

Weil die Sucht nach Synonymen groß ist, kommen gelegentlich auch „anscheinend“ und „scheinbar“ ins Spiel. Zum Beispiel so:

Die türkische Regierung geht anscheinend weiter gegen angebliche Gegner der Justiz vor.

Die türkische Regierung geht scheinbar weiter gegen angebliche Gegner der Justiz vor.

Einer der beiden Leadsätze ist falsch. Denn „anscheinend“ und „scheinbar“ haben unterschiedliche Bedeutungen.

Anscheinend“ definiert eine Situation, die „allem Anschein nach“ so ist. Oder mit dem Duden gesprochen:

dem/allem Anschein nach (vermutlich; offenbar; anscheinend)

Scheinbar“ dagegen definiert eine Situation, die vorgetäuscht ist – also so nicht existiert. Nochmals der Blick in den Duden:

aufgrund einer Täuschung wirklich, als Tatsache erscheinend, aber in Wahrheit nicht wirklich gegeben

Damit ist klar, dass nur der erste Leadsatz aus dem Beispiel oben korrekt ist:

Die türkische Regierung geht anscheinend weiter gegen angebliche Gegner der Justiz vor.

Mit anderen Worten: Es gibt zwar keine Bestätigung, aber ernstzunehmende Hinweise, dass Staatsanwälte versetzt werden.

Der zweite Leadsatz aus dem Beispiel oben führt in die Irre:

Die türkische Regierung geht scheinbar weiter gegen angebliche Gegner der Justiz vor,

bedeutet, es wird nur so getan, als würden Staatsanwälte versetzt. Es wird absichtlich etwas vorgetäuscht – nur zum Schein.

Wer in der Eile des Nachrichtengeschäftes keine Zeit und Lust hat, sich an diesen wichtigen Unterschied zu erinnern, der kann ohne Probleme auf den Einsatz beider Wörter verzichten. Es gibt reichlich andere Formulierungen, wie:

  • hat es offenbar…
  • gibt es Berichte über…
  • wird aus xyz gemeldet…
  • soll es xyz gegeben haben…
  • wird über xyz spekuliert…
  • gibt es Hinweise auf…

Bitte aber eine Modeerscheinung meiden:

…hat es einen möglichen Anschlag gegeben…

Das ist Quatsch, vermehrt sich aber leider rasant. Es gibt keinen „möglichen Anschlag“ – genauso wenig wie es einen „unmöglichen Anschlag“ gibt.

(Bild: Udo Stiehl)

Über udostiehl

Redakteur und Sprecher