Nein. Es gibt keine vollständige Geschichte. Auch wenn auf Twitter, Facebook und sonst wo schon die Gerüchteküche brodelt. Und: Ja, es gibt alle Spekulationen, Fakes und Behauptungen. Aber das hat nichts mit Journalismus zu tun – wird aber oft damit verwechselt.
In den vergangenen Tagen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, die Nachrichtenthemen aus Konsumentensicht zu verfolgen – im Urlaub sitzt man nicht in der Redaktion. Und die Kollegen waren nicht zu beneiden um ihre Aufgaben. Erst werden auf der Promenade von Nizza 84 Menschen überfahren, dann gibt es einen Putschversuch in der Türkei und kaum ist dieses Thema einigermaßen journalistisch aufgearbeitet, kommen Meldungen über einen Angriff auf Fahrgäste in einem Zug bei Würzburg.
Alle drei Ereignisse haben eines gemeinsam
Von Beginn an stand eine Erwartungshaltung gegen eine journalistische Haltung. Ab den ersten Eilmeldungen wurde in den sozialen Medien kritisiert, es gäbe ja noch gar nichts im Fernsehen dazu. Im jüngsten Fall bei Würzburg brachte es Benjamin Denes von SpiegelTV auf den Punkt:
@udostiehl Das Absurde ist ja: Die Twitter-Sesselreporter sind in Echtzeit informiert, wollen aber zeitgleich vom TV Info-Mehrwert.
— Benjamin Denes (@berlinflaneur) July 18, 2016
Wobei „informiert“ sich in diesem Zusammenhang darauf beschränkt, eine Timeline zu verfolgen, die überwiegend nicht-journalistischen Ursprungs ist. Dennoch bemerkenswert, dass ausgerechnet aus diesen Reihen die Rufe nach sofortiger und vollständiger Fernsehberichterstattung laut werden. Mit anderen Worten: Die User möchten gerne möglichst in Echtzeit die Bestätigung oder Widerlegung aller in ihrer Gerüchteküche befindlichen Informationen durch professionelle Journalisten. Nur Zeit zur Recherche wird nicht gewährt. Dauert es etwas, wird daraus sofort der Schluss gezogen:
„Die können es nicht. Und die werden auch noch dafür bezahlt!“
Wie schon erwähnt habe ich mir das aus der Sicht des Konsumenten in den vergangenen Tagen angesehen. Mit den Mitteln der herkömmlichen Möglichkeiten: Twitter, Fernseh-Livestream, Online-Medien. Und ohne Login in meinen Agenturzugang. Es waren ausschließlich Möglichkeiten die jedem Interessierten am Geschehen zur Verfügung stehen. Einziger Unterschied: Ich weiß, wie im Hintergrund gearbeitet wird. Und genau hier liegt nach meiner Einschätzung das Problem.
Genauer gesagt liegen hier die Probleme. Es ist nicht nur ein Missverständnis oder gar Unverständnis. Es ist eine ganze Reihe von Kritikpunkten, hinter denen sehr unterschiedliche Motivationen stecken.
- Die Informations-Junkies
Da zähle ich mich dazu und kann nachempfinden, dass jede neue Information wie ein Schwamm aufgesogen und bewertet wird. Wichtig hierbei: Es wird tatsächlich bewertet und eingeordnet – ohne und auch mit journalistischer Begleitung. Je nach dem, wie weit die Berichterstattung fortgeschritten ist. - Die interessierten Ungeduldigen
Haben auch alle denkbaren Quellen angezapft, mögen aber nicht abwarten, bis irgendwas bestätigt oder zumindest als plausibel eingeordnet wird. Sind aber dankbar, wenn fachlich kundige Menschen die Berichterstattung begleiten – wenn auch nach deren Auffassung meist zu spät. - Die Allwissenden
Qualifizieren sich vor allem durch Weitergabe sämtlicher im Umlauf befindlichen Informationen, egal wie plausibel oder abseitig sie sind. Hauptsache, man kann hinterher darauf verweisen, das doch schon von Anfang an so vermutet zu haben. Kunststück, wenn man alles weiterverbreitet. - Die Basher
Warten bei jeder Nachrichtenlage nur darauf, etablierten Medien vorzuwerfen, viel zu spät, zu träge, zu parteiisch oder gar nicht berichtet zu haben – auch wenn nachweislich das Gegenteil der Fall war.
Die Mischung aus all diesen Positionen ist interessant.
Die Dauernörgler und Standardbasher sind bei weitem nicht in der Mehrheit. Aber sie sind die lautesten im Konzert der Kritiker. Sie provozieren mit vergleichsweise wenig Aufwand einen beachtlichen Aufruhr. Gegen Argumente und Erklärungen sind sie immun – sie lehnen journalistische Einordnung ab:
Nein. Man konnte genau verifizieren, was am Airport passierte. 34 Periscope livestreams aus allen Winkeln. https://t.co/2QfeOdSO5V
— DenisGoldberg (@DenisGoldberg) July 18, 2016
An dieser Stelle kommt dann wirklich die Frage, ob es User vorziehen, gänzlich ohne Journalismus auskommen zu wollen. Live-Bilder – woher sie auch stammen mögen und mit welcher Intention sie verbreitet wurden – Hauptsache live.
Aus Sicht eines Nachrichtenredakteurs ist so eine Haltung der GAU.
Wer auf jegliche Einordnung, Hintergrundinformation und Verifizierung der Quelle verzichten möchte, hat seine Medienkompetenz verloren – so er sie überhaupt jemals hatte. Und Menschen mit dieser Einstellung fangen wir Journalisten auch kaum noch ein. Da können wir noch so gut und sauber berichten: Diese Klientel hat unsere Branche im Kopf längst gegen die Filterbubble ausgetauscht. Wir professionellen Redakteure sind da nur noch wahlweise Nutznießer, Wichtigschwätzer oder gar Propagandisten.
Was fehlt, ist Medienkompetenz.
Es mangelt zunehmend daran, klarzustellen, was die Aufgabe professioneller Medien ist. Das fängt im Elternhaus und auch in der Schule an – aber dort ist es oft allenfalls Randthema. Das setzt sich im weiteren Lebensweg fort, spätestens, wenn politische Konzepte nur noch als Ventil für Wut und Aggression aufgefasst werden.
Daraus darf aber keinesfalls der inzwischen gerne und manchmal auch lukrative Weg eingeschlagen werden, den Zuschauern/Hörern/Lesern nach dem Mund zu schreiben und zu senden, damit die Quote stimmt und die Lautstärke weniger Schreihälse geringer wird. Ganz im Gegenteil:
Es ist an der Zeit, ordentlichen Journalismus dieser Ignoranz entgegenzusetzen.
Es ist dringend geboten, dem rasenden Geschäft der „Klick-Geier“ und „Schnell-Melder“ mit Qualität und Recherche das Handwerk zu legen.
Ja, das kostet im Berichtsfall Zeit, die man uns nachträglich als Versäumnis vorwerfen wird. Und es kostet Geduld, die uns – insbesondere bei öffentlich-rechtlichen Medien – als Geldschneiderei unterstellt wird.
Aber wenn wir dem Druck nachgeben und damit journalistische Grundwerte über Bord werfen, dann haben wir vielleicht sogar kurzfristig eine tolle Quote, aber langfristig das eigene Grab gegraben.
Journalisten haben letztlich keine Wahl
Dem Druck nach Geschwindigkeit darf nicht nachgegeben werden, dem Ruf nach sofortiger Berichterstattung um der Spekulation Willen muss widerstanden werden und Medienkompetenz zu lehren sollte endlich zum Lehrfach in den Schulen werden.
Ordentlicher und anständiger Journalismus ist Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Auch, wenn kleine Provokateure meinen, das in Frage zu stellen.
(Bild: Screenshot BBC World News)
@Markus: Umso schlimmer, daß die ARD dann eben auch bei Fußball (oder Musikantenstadl) nicht imstande war, zu sagen, ob und wann das geplante Pogramm stattfindet. Wozu hat man ein TV-Programm, wenn es nicht eingehalten wird? Ich bin auch kein Freund davon, einen Film gegen einen anderen auszutauschen, weil ein Schauspieler gestorben ist, denn der eine Film kommt dann nicht und vom anderen weiß ich nix, wenn ichd en einen gar nicht sehen wollte, ärgere mich dann nur, wenn ich später von erfahre.
Ich denke, mit unserer Meinung sind wir einer Meinung mit Udo Stiehl. Kein Mensch braucht heiße Luft parallel auf allen Kanälen. Das Blöde ist nur, daß viele tatsächlich danach verlangen und sich dann nachher systematisch darüber echauffieren, welcher Kanal wie lange noch gewagt hat, nicht „Breaking News“ zu fahren, sondern das vorgesehene Programm. Gab echt Posts, wo das aufgelistet wurde bis runter zu RTL II, wer zuerst unterbrochen hat und wo doch tatsächlich das reguläre Programm lief. Wie soll so Substanzielles gesendet werden? Wenn es um die Information der Bevölkerung wegen akuter Gefahr geht, reicht eine Laufschrift.
@DL2MCD: Gut, für Sport wird jetzt eher selten ein Programm „breaking news“-mässig unterbrochen, sondern eher vorab mittelfristig umgestellt, aber ist schon klar was gemeint ist. Mich stört das prinzipiell nicht, aber ich kenne genug Leute die es stört und ich kann mich durchaus dazu überwinden, das zu verstehen.
Solange es keine akute Bedrohungslage oder Katastrophenwarnung gibt, die ich wirklich unmittelbar erfahren muss weil sie mich direkt betrifft, gibt es keinen Grund für „Breaking News“ in regulären Programmen. Das hat keine Art von Zwang zu sein, sondern Optionsangebot. Wenn ich mich informieren will, kann ich das tun, dafür gibt es Medien und Kanäle (überhaupt, wieso wird eigentlich über einen ö/r-Nachrichtenkanal diskutiert? „tagesschau24“ existiert doch…). Wenn ich mich nicht aktuell informieren will, muss auch das möglich sein ohne dass einem auf allen Kanälen die Nicht-Nachrichten vorn und hinten reingeschaufelt werden und man es kaum ignorieren oder vermeiden kann. Auch diese ständige Betroffenheitsmimik und -rhetorik ist ein fürchterliches Übel, insbesonders wenn eigentlich überhaupt (noch) keine Hintergründe oder Details bekannt sind. Damit informiert man nicht, sondern damit schürt man Unsicherheit, Sorgen und Ängste. Gleiches erreicht man mit dem dauernden Betonen, wie schlimm schlimm schlimm doch alles ist. Nüchterne Sachlichkeit wäre angeraten. Aber das ist selten. Mindestens so selten wie das kleine Pflänzlein der Erkenntnis, dass „spät aber dafür genau, gut recherchiert und ausführlich berichten“ um ein Vielfaches wertvoller ist als „breaking news“ am Puls des Geschehens per Periscope und Co. – gerade bei den öffentlich-rechtlichen, wo Clickzahlen und Page Impressions und dergleichen unbedeutend sind (oder sein sollten).
(Davon mal ab – wieso lief da eigentlich den ganzen Abend auf fast allen ARD-Kanälen (ausser mdr und noch einem, der mir nicht einfällt…) parallel dasselbe Programm? Gibt’s ernsthaft Programmentscheider, die sowas für nötig und vertretbar halten? Also, echt jetzt?)
Nun war’s ja „nur“ ein Amoklauf, kein „Terror“… aber die echten Terroristen lachen sich doch ins Fäustchen bei der Art und Weise, wie auf sowas reagiert wird. Die typischen Medienmechanismen gehören doch in deren Kalkül. Merken die Nachrichtenmacher das eigentlich wirklich nicht? Zum „Terrror“ gehören immer zwei – einer, der terrorisiert, und einer, der sich terrorisieren lässt. Ist es wirklich noch nicht in den Redaktionen angekommen, dass „sich schlichtweg nicht terrorisieren lassen“ eine echte Option ist, die den fundamentalistischen Idioten von vornherein den Wind aus den Segeln nimmt?
@Markus: Doch, Fußball ist sauwichtig. Für Fußball (und Tennis) wurden schon dutzende Sachen unterbrochen, die ICH gerne gesehen hätte und für die ich mir den Abend freigehalten hatte. Deshalb käme ich gar nicht mehr auf die Idee, daß im Fernsehen das läuft, das im Programm steht. Es gibt ja prompt wieder Dutzende Seiten im Web, auf denen jetzt aufgelistet ist, daß Sat1 sein Programm nicht, RTL aber doch unterbrochen hat – oder umgekehrt – und wie gut das ist. Danach wird bewertet, „breaking news“, egal, wie schlecht. ARD war schlecht.
Geht man ins Internet, so bekommt man dort den Ratschlag, Radio und Fernsehen einzuschalten. Was soll das bringen? Wenn ich Radio UND Fernsehen einschalte, verstehe ich kein Wort mehr.
(jaja, solche Spitzfindigkeiten passen nicht zu so einem Anlaß, wird mancher Leser sagen – aber trotzdem, es suggeriert ja, daß man vor lauter Panik möglichst alles gleichzeitig anschalten soll, um noch mehr Panik zu haben…)
Mal so „aus gegebenem Anlass“ weil es so gut hierzu passt…
Es tickert just jetzt gerade so „Schüsse in München“ (ist seit rund einer halben Stunde in der Entwicklung) und die ARD verbringt gerade eine komplette Live-Sondersendung damit, zu spekulieren, in die Luft zu pseudoanalysieren, und zu berichten, dass man so gut wie noch garnichts genaues weiss und sich Meldungen ständig widersprechen. Ich verstehe es nicht. Worin liegt die Notwendigkeit einer Sondersendung wie dieser? Schaltung hin, Schaltung her, Schaltung zurück, Moderatorin weiss nicht was tun und kuckt fragend in die Kamera während sie ihrem Ohrstöpsel lauscht, fragen wir doch mal das Internet, das weiss aber auch nichts… meine Güte… Inhalt null, Hauptsache schnell schnell schnell und live dabei. Und immer schön auf Drama und Alarmismus achten.
Im ARD-Portfolio gibt es ja einen Sender namens „tagesschau24″… hm, was könnte da wohl laufen, was wäre da wohl gut aufgehoben, ich komm nicht drauf, ich komm nicht drauf, mal schauen… ach ja, schau an! Da läuft exakt dasselbe wie in der ARD! Logisch… da wo es hingehört.
Ich gebe jetzt mal unumwunden zu, dass es mich das nicht nur aber auch vor allem masslos ankotzt, weil für diese komplett unnötige Luftnummer das unterbrochen wird, was ich eigentlich sehen will, nämlich eine Fussballübertragung. Können wir gerne diskutieren wie wichtig sowas triviales wie Fussball denn genommen werden kann oder darf in Fussballdeutschland. Geschenkt. Ist mir ehrlich gesagt egal, denn es ändert nichts am Kern der Sache: unnötige, zusammengestammelte Sondersendung fast völlig ohne Lagekenntnisse und Überblick, während das Ereignis noch tiefstens im Gang und in der Entwicklung ist, redundant auf zwei Kanälen, worfür mir Fussballmoderatoren dann auch noch wohlfeilen Quatsch der Marke „ich weiss, dafür haben sie bestimmt Verständnis“ auf’s Brot schmieren. Nein, habe ich nicht. Thanks for nothing.
Es gibt auch noch die Leute, die hinter der (natürlich als verschleppt, unvollständig und tendenziös wahrgenommenen) Berichterstattung der Medien, gerade der öffentlich-rechtlichen, irgendwelche sinistren Machenschaften wittern: #viernheim Verschwörung geht immer…
Dabei wird Journalisten allerdings auch schon lange nicht mehr Zeit für tiefe Recherche (bei freien Journalisten: Geld, um sich die Zeit nehmen zu können) gelassen. Und die daraus teils entstehenden schlechten Beispiele schüren natürlich wieder die Vorurteile.
Im Zweifelsfall filmt der IS aber in Zukunft gleich selbst mit und bläst die Massaker-Videos anschließend selbst ins Netz. So, wie ja auch Unternehmen inzwischen eigene Medien betreiben, z.B. FC Bayern, um nicht mehr durch die Journalisten ausgebremst zu werden.
[…] Viele Nutzer verwechseln die soziale Medien mit redaktionellen. Natürlich kann eine Information, ein Foto, ein Video auf diese Weise schnell vom Tatort in die Welt gelangen, aber sie gibt eben nur einen kleinen Ausschnitt dessen wieder, was passiert ist. Und die Informationen kommen oft von Betroffenen. Von jemandem, der gerade Opfer wurde – das kann auch ein reiner Augenzeuge sein. Ein Blick von außen fehlt – jemand, der die Informationen prüft, verschiedene Wahrnehmungen eines Ereignisses abgleicht, Stellungnahmen von Experten einholt, Hintergründe erklärt. All das ist und bleibt eine journalistische Aufgabe. Das kann man nicht im selben Moment erwarten, in dem Erstinformationen über ein Ereignis verbreitet werden, wie mein Nachrichtenkollege Udo Stiehl richtig feststellt: […]
Werter Herr Stiehl,
ich finde es eher erfreulich, wenn in ARD und ZDF das Programm nicht aus Sendungen besteht, in denen mir Menschen mit Weltkugelhintergrundbild vorlesen, was ich selbst auf Twitter lesen könnte — obwohl ich genau das auch schon erlebt habe. Die Bedienung von Twitter ist ja nicht so schwierig, als dass ich sie nicht schnell erlernt hätte, und zwar vor vielen, vielen Jahren, als der allgemeine Umgangston dort noch nicht so vergiftet war, dass mir davon übel wird.
Aus der Liste der von ihnen in Form einer nummerierten Liste „analysierten“ Spekulationen über die Motive eines Twitter-Nutzers bin ich weder der Informationsjunkie, noch der Interessierte in ihrem Sinne dieses Wortes und schon gar nicht der Allwissende (ich halte mich eher für recht unwissend), so dass ich davon ausgehe, dass ich gemäß den Maßstäben ihrer journalistischen Filterbubble als ein „Basher“ betrachtet werde, der nur auf die Chance eines Vorwurfes wartet, zu spät, zu träge, zu parteiisch, gar nicht oder gar (von ihnen nicht, von anderen durchaus häufig so benannt) mit dem unangenehmen Beigeschmack von Propaganda berichtet zu haben.
Ich musste mich leider im Laufe meines Lebens damit abfinden, dass ich an der meiner Beurteilung durch andere Menschen nichts ändern kann — und wenn diese Urteile aus überlegener Position, mit dem Megafon eines quasi-industriellen Medienapparates ergehen, so lasse ich sie halt über mich ergehen und warte darauf, dass sich diese Urteile selbst zur Satire machen. Und natürlich präge ich mir die Gesichter gut ein, die da urteilen.
Als in der Türkei ein Militärputsch lief, hatte ich selbstverständlich Twitter an. Wer hatte das nicht? Ergänzend habe ich in den Livestreams von ARD und ZDF nach Berichterstattung gesucht, weil diese von Propaganda und Gerüchten überflutete Kürzsttextsenke Twitter… sie wissen schon! Wer würde nicht auf diese Idee kommen? Es gab diese Berichterstattung nicht. Selbst auf dem dezidierten „Informations- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF“ namens Phoenix gab es sie nicht.
Verstehen sie mich nicht falsch. Ich habe schon ARD-Brennpunkte gesehen, deren einziges Thema es war, dass wir das ganz gewöhnliche, jahreszeitlich zu erwartende Wetter haben. Es wird warm im Sommer. Wie warm das ist! Wie reagieren die Menschen darauf? Weia, ist das warm! Nun schalten wir zu Hansel Plantsch ins Freibad. Herr Plantsch, was sagen sie dazu? Es ist so warm dort (plantscht dabei mit seinen Füßen im Becken). Danke für ihren Bericht. Es wird die nächsten Tage warm bleiben. Ein Ende der Wärme ist nicht in Sicht. (Nein, ich meine keine Katastrophen, da kann ich den Brennpunkt verstehen und halte das Format für völlig angemessen. Ich meine solche Bullshit-Brennpunkte wie der aus dem letzten Jahr, den ich eben aus meiner Erinnerung karikiert habe.)
Da kann man doch erwarten, dass es – wenn man sich schon eine Nachrichtenredaktion hält –aktuelle Berichterstattung zu einem Thema mit wirklicher Wichtigkeit gibt.
In einem Staat an der Grenze der Europäischen Union, der NATO-Mitglied ist, der durch die laufende Flüchtlingsvereinbarung mit der gegenwärtigen Bundesregierung von nicht unerheblicher tagespolitischer Bedeutung ist, dessen Staatsangehörige und in diesem Staate verwurzelten Menschen eine bedeutende, auffällige und kulturmitprägende Minderheit in Deutschland sind, findet ein Putsch statt. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass ich das für recht bedeutsam halte. Zumal dieser Staat unter der Führung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan vor noch gar nicht so langer Zeit durch den quicken Abschuss einer russischen Militärmaschine in Kauf genommen hat, einen NATO-Bündnisfall auszulösen. Wie in der gegenwärtigen Türkei mit Opposition, oppositioneller Presse, dem Internet und ganz allgemein der Pressefreiheit umgegangen wird, ist ihnen sicherlich wohlbekannt, Herr Stiehl, und auch der Einsatz von Staatsgewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten in der Türkei ist sicherlich nicht so geheimnisvoll, als dass ein Journalist des öffentlich-rechtlichen Fernsehens das nicht mitbekäme. Völlig unabhängig vom späteren, zunächst nicht absehbaren Verlauf des Putsches handelte es sich um Ereignisse, die für viele Menschen in Deutschland von unmittelbarer Bedeutung waren. Und eine Sendeanstalt wie Phoenix ist kozeptionell für so eine Berichterstattung da.
Die Reaktion von ARD und ZDF… nichts. Nein, nicht nichts. Phoenix hat dann schließlich doch noch auf Twitter reagiert. 😦
Und als der Putsch niedergeschlagen wurde, hat die Redaktion der ARD-Tagesschau eine Überschrift formuliert, wie ich sie seit den seligen Zeiten der Aktuellen Kamera nicht mehr bei einem deutschsprachigen Fernsehsender gesehen habe. 😦
Wie gesagt, sie können mich gern einen „Basher“ schimpfen, Herr Stiehl, und sie können diese unerträglich arrogante Pose der Frontgesichter des Fernsehbetriebes gern so oft einnehmen, wie sie möchten. Ich kann sie nicht daran hindern. Aber sie sollten sich in dieser Pose mal bewusst im Spiegel anschauen, um dabei zwei Dinge zu verstehen: Dass erstens drei Finger auf sie selbst zurückzeigen, wenn sie mit einem Finger auf „Basher“ deuten, und dass zweitens der Ansehensverlust des unerträglich staatsfromm gewordenenen öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der BRD auch an solchen Posen seiner Mitarbeiter liegt, wie sie sie hier einnehmen.
Mit einem freundlichem Lächeln vom Satiriker zum Realsatiriker
Der Nachtwaechter
(Gut, dass es das Englischprogramm von Al Jazeera gibt!)
@Columbus: Leider uach nur Linkdropping.
Leider auch von vielen Journalisten.