Wir haben die „Katastrophe“ verschlissen und ringen nun nach Worten

Die „Jahrhundert-Katastrophe“ macht wieder die Runde in der Berichterstattung. Diesmal kommt der Begriff nicht – wie meist – aus den Redaktionen selbst, sondern aus der Politik. Entwicklungsminister Müller von der CSU hat ihn verwendet, um die Situation syrischer Flüchtlinge zu beschreiben. Es ist einer der seltenen Fälle, in denen zurecht von einer Katastrophe die Rede ist, macht aber auch deutlich, wie verschlissen dieser Begriff durch die allzu häufige Verwendung bereits ist:

Wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu erzeugen, sind wir Redakteure schnell dabei, von einer Katastrophe zu sprechen. Zum Beispiel bei Hochwasser. Ein Fluss tritt über die Ufer, Keller laufen voll und Autos saufen ab. Die Sachschäden sind beträchtlich, Menschen kommen in den meisten Fällen nicht zu Schaden. Trotzdem können Wetten darauf abgeschlossen werden: Allen Ortes wird von einer „Katastrophe“ berichtet. Natürlich gehört es zum Geschäft, gerade in Schlagzeilen zuzuspitzen. Mit „Hochwässerchen“ lässt sich keine Auflage machen. Das Wort „Hochwasser“ ohne dramatisierende Erweiterung ist kein Hinhörer mehr.

Das Problem ist hausgemacht

Selbst schuld, schließlich waren es oft wir, die mit der „Katastrophe“  inflationär um uns geworfen haben. Und das ist uns auch bewusst. Wird über eine Katastrophe berichtet, die diese Bezeichnung wirklich verdient, tritt das Problem zutage. Wie in diesem Text der Rhein-Zeitung:

Bei echten Hochwasserkatastrophen wie in den Jahren 1993 und 1995 ist auch die neue Schutzwand wirkungslos.

„Echte“ Katastrophen also. Was bedeutet, dass andere Hochwasser dann wohl „falsche“ Katastrophen waren, oder genauer gesagt fälschlicherweise als Katastrophe bezeichnete Hochwasser. Die Liste der vermeintlichen Katastrophen und denen, die wirklich als solche gewertet werden müssen, ist natürlich wesentlich länger als dieses Beispiel zum Hochwasser. Derselbe Mechanismus greift unter anderen auch bei Sturm-, Flut-, Schiffs- und Flugzeugkatastrophen.

Stürzt eine kleine Sportmaschine ab und beide Insassen kommen ums Leben, wird wie selbstverständlich von einer Flugzeugkatastrophe und nur selten von einem Unglück gesprochen. Zum Vergleich: Der folgenschwerste Unfall (in der zivilen Luftfahrt und ohne terroristischen Hintergrund) ereignete sich 1977 auf Teneriffa. Damals stießen auf der Startbahn zwei Boeing-747 zusammen. 583 Menschen starben.

Die Macht der Gewohnheit

Als ich das Zitat von Minister Müller zum ersten Mal hörte, fiel mir nur der Zusatz „Jahrhundert“ auf. Schon wieder einer, der das ganz große Besteck auflegt, ohne wissen zu können, welche Katastrophen dieses noch sehr junge Jahrhundert in Zukunft bereit hält. Bei näherer Betrachtung aber blieb ihm kaum eine andere Wortwahl! Wenn inzwischen – wie von der UNO geschätzt – 2,5 Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind und sich weitere 6,5 Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht befinden, dann ist das eine Katastrophe.

Der Begriff reicht aber heutzutage nicht mehr aus, um die Dimension korrekt darzustellen. „Katastrophe“ ist so verschlissen durch den ständigen Gebrauch in Presse und Öffentlichkeit, dass es ohne wortgewaltigen Zusatz nicht mehr geht. Ja, Sprache entwickelt sich. Und wir Redakteure haben in diesem Fall einen wenig hilfreichen Teil dazu beigetragen. Wir können jetzt so weitermachen und darauf warten, bis die „Jahrtausend-Katastrophe“ zum Standardvokabular wird. Wir können aber auch unseren Einfluss auf die Sprache in umgekehrter Richtung nutzen und häufiger Fragen, ob es nicht auch eine Nummer kleiner geht. Und zwar bevor das Manuskript veröffentlicht wird.

(Bild: Fabian Mohr)

Über udostiehl

Redakteur und Sprecher