Knick im Raum-Zeit-Kontinuum

Gleichzeitig, zugleich, zeitnah und zeitgleichDer Einzug des Winters wird in diesem Jahr etwa eine halbe Stunde dauern. Diese meteorologische Sensation hat – von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt – die Abendzeitung München vorhergesagt.

Schon eine Woche vor dem Beginn des Weihnachtsmarktes in der bayerischen Hauptstadt meldet die Zeitung:

„Oberbürgermeister Christian Ude eröffnet den Markt offiziell am 25. November um 17:00 Uhr – zum letzten Mal in seiner Amtszeit. Zeitgleich ist der Winter im Anmarsch.“

Und dass in Solingen revolutionäre Fortschritte in der Medizin gemacht wurden, haben Sie vermutlich auch nicht mitbekommen. Dort dauern – dem Solinger Boten zufolge – bald alle Operationen exakt gleich lang. Das ist möglich, weil

„…die Technik breit genug aufgestellt ist, damit OPs zeitgleich stattfinden können.“

Solche ungewollten Wetter-Wunder und Medizin-Mythen lassen sich sehr leicht vermeiden: Stellen Sie den Begriff „zeitgleich“ in Ihren Giftschrank.

Geschehen Ereignisse zum gleichen Zeitpunkt, der nicht der selbe Zeitpunkt sein muss, haben Sie reichlich Auswahl. Es kann gleichzeitig gewesen sein, zugleich könnte es auch parallel dazu stattgefunden haben.

Nur „zeitgleich“ werden Sie so gut wie nie sinnvoll einsetzen können. Denn diese Formulierung funktioniert ausschließlich im Zusammenhang mit Zeitmessung. Die Kollegen vom Sport sind so ziemlich die Einzigen, die mit „zeitgleich“ etwas anfangen könnten.

Zum Beispiel in der Berichterstattung über die Qualifikation zu einem Formel-Eins-Rennen. Wenn Sebastian Vettel und Fernando Alonso beide in einer Minute, 27 Sekunden und 40 Hundertstel ihre erste Runde gefahren sind, dann ist die folgende Schlagzeile richtig:

Vettel und Alonso in der ersten Runde zeitgleich“.

Auch wenn sie nicht gleichzeitig gefahren sind. Und schon wenn sich herausstellt, dass die Tausendstel-Sekunden unterschiedlich waren, ist auch diese Schlagzeile für den Eimer.

Machen Sie sich also keine Gedanken um den Begriff „zeitgleich„. Er ist im Giftschrank nicht einsam, sondern in bester Gesellschaft – und zwar mit seinem engen Freund „zeitnah„.

Dieser Blubberbegriff schafft es leider noch immer bis hoch in die Schlagzeile. Weil eine Veranstaltung wegen Regens abgebrochen wurde, melden die WESTFÄLISCHEN NACHRICHTEN:

Vorstellungen sollen zeitnah nachgeholt werden

Der Berliner TAGESSPIEGEL meldet in der Rubrik Wissen (sic!):

Bafög zeitnah beantragen – Bearbeitungszeit beträgt sechs Wochen und mehr

Und RP Online titelt:

ThyssenKrupp plant zeitnah Kapitalerhöhung

Was fasziniert Redner und Redakteure gleichermaßen an diesem Begriff? Eine verständliche Sprache kann das Motiv nicht sein. Es sei denn, zu Hause erklingt tatsächlich aus dem Flur der Ruf:

Schatz, ich gehe zeitnah Brötchen holen!

Mangelt es an Synonymen? Nein. Der DUDEN wartet mit einer umfangreichen Liste auf:

im Handumdrehen, prompt, rapide, rasch, schnell, sofort, sofortig, unverzüglich, zügig; (umgangssprachlich) fix, flottweg, in null Komma nichts; (süddeutsch, österreichisch) rapid

Könnte meine Vermutung zutreffen, dass „zeitnah“ ein kleiner häßlicher Baustein in der Sprache von Wichtigtuern ist? Die sich bewusst mit verbalen Blähungen abheben wollen von gesprochener Sprache und hörbar dick auftragen möchten? Und die auch nicht vor Steigerungen zurückschrecken? Wie zum Beispiel in dieser Meldung des Berufsverbandes der deutschen Dermatologen?

Honorar soll zeitnäher Fallzahlentwicklung abbilden

Solche sprachlichen Flatulenzen gehören Lesern, Hörern und Zuschauern nicht ins Gesicht trompetet. Ab damit in den luftdichten Giftschrank, dann abschließen und Schlüssel wegwerfen.

(Bild: Udo Stiehl)

Über udostiehl

Redakteur und Sprecher