Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren

Kein Ereignis hat bisher so klar vor Augen geführt, dass im Nachrichten-Journalismus handwerkliche Grundlagen abhanden gekommen sind. In der Berichterstattung über den Absturz eines Germanwings-Flugzeugs haben Vorgaben zum Sendeformat die Inhalte bestimmt – und fast überall klebte das Etikett „Nachrichten“ drauf. Es waren aber kaum welche drin. Weil die Definition von Nachrichten inzwischen so verwaschen und ausgehöhlt ist, sollte die ursprüngliche Form dieses Genres zu neuem Leben erweckt werden. Nennen wir es der Einfachheit halber „Fakten„.

Das Problem, das im Zuge der Berichterstattung über den Absturz des Germanwings-Flugzeugs in den französischen Alpen sichtbar wurde, besteht aus mehreren Schichten:

Mangelnde Qualifikation von Redakteuren für die nachrichtliche Arbeit ist selten so deutlich geworden. Gerüchte und unklare Zusammenhänge gelangen in die Sendung, werden zur (eigenen) Absicherung mit einem „angeblich“, „offenbar“ oder „dem Vernehmen nach“ verpackt und als Nachricht verkauft. Das darf allerdings nur zum Teil den berichtenden Kollegen angelastet werden. Denn es handelt sich bei vielen inzwischen um die vielzitierten „eierlegenden Wollmilchsäue“. Es gibt keine Ausbildungswege, die speziell auf Nachrichtenarbeit schulen. Und – das gehört auch dazu – kaum mehr Interessenten für das Berufsfeld des Nachrichtenredakteurs. Selbst renommierte Häuser haben Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal für dieses Ressort zu finden. In der Folge sitzen selbst auf verantwortlichen CvD-Positionen inzwischen Redakteure, die zwar ihr journalistisches Handwerk im Kern beherrschen, aber in den speziellen Anforderungen des Nachrichtengeschäfts nur wenig Erfahrung haben.

Sinnloser Geschwindigkeitswahn beherrscht den Wettbewerb um Leser, Hörer und Zuschauer inzwischen wie nie zuvor. Die Redaktionen sehen sich getrieben, möglichst sofort zu liefern, obwohl es noch so gut wie nichts zu liefern gibt. Diesen Zeitdruck haben sich die Medienhäuser selbst erschaffen, weil sie ihren Kunden stets suggerieren, die schnellsten zu sein und mehr zu wissen als die Konkurrenz. Und gerade bei Ereignissen wie einem Flugzeugabsturz entlarvt sich dieser schöne Schein. Die Erwartungen wurden von eigener Hand unendlich hochgeschraubt und können dann nicht erfüllt werden. Die wenigen verlässlichen Informationen gehen unter in einem Meer von Spekulationen, denn nur diese lassen sich mehr oder weniger rasch veröffentlichen und unterscheiden sich von Mutmaßungen, mit denen die konkurrierenden Redaktionen ihre Lücken zwischen den Fakten füllen. Das hat mit dem Handwerk des Nachrichten-Journalismus nichts zu tun, wird aber mit ebendiesem Etikett verkauft.

Emotion überlagert Information und wird gewollt oder ungewollt zum Marketinginstrument. Das beginnt schon bei der Sprache in der Berichterstattung, die abrückt von sachlicher Darstellung und gespickt ist mit Adjektiven wie „tragisch“, „grausam“, „dramatisch“ – und die Frage aufkommt, was ein Flugzeugabsturz denn wohl sonst ist. Hinzu kommen teils heuchlerisch anmutende Beileidsbekundungen, die mangels relevanter Fakten als Nachrichtenmeldung verbreitet werden. Bei allem Respekt: Dass Google auf seiner Startseite eine schwarze Trauerschleife zeigt, nach eigenem Bekunden „zum Gedenken an die Passagiere des Flugzeugabsturzes“, fällt wohl eher in den Bereich der schwarzen PR und hat nun wahrlich keinen Nachrichtenwert (von Grammatik und Syntax mal ganz abgesehen). Ähnliches gilt für Äußerungen von Prominenten und die sich dafür halten, nur weil sie glauben, von ihnen werde ein Statement dazu erwartet. Auf der Welle der Trauerbekundungen lässt sich vorzüglich surfen, um publikumswirksam seine menschlichen Qualitäten darzustellen – wenn auch keinerlei direkte Verbindung zum Unglück und den Opfern besteht.

Nachrichten bedeutet, das zu melden, was bisher gesichert bekannt ist. Der Rest fällt nicht ins Genre Nachrichten.

Nur ist dieser Begriff längst nicht mehr mit der ursprünglichen Bedeutung verknüpft. Die Bezeichnung „Nachrichten“ hat sich mit der Zeit in viele journalistische Formen eingeschlichen, die  Mischformen aus Information, Kommentar, Einschätzung und Wertung sind. Dementsprechend dürfen sich die Verantwortlichen nicht wundern, dass das Publikum überhaupt nicht mehr einordnen kann, was nun tatsächlich zu den gesicherten Informationen zählt und was nicht – wenn es das überhaupt jemals können musste, denn diese Unterscheidung ist die ureigene Aufgabe der Profis in den Redaktionen. Dass inzwischen – mit Verlaub – jeder Krempel als Nachricht deklariert wird, dieses Rad wird sich nicht mehr zurückdrehen lassen.

Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren. Das heißt aber nicht, dass auch die ursprüngliche nachrichtliche Arbeit und ihre rein sachliche Darstellung an Wert verloren haben. Sie sind nur kaum noch erkennbar im medialen Dauerfeuer vermeintlich relevanter Informationen. Wenn also an der mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit verwaschenen Definition von Nachrichten nichts mehr zu retten ist, dann muss eine neue Form her, die eigentlich eine ganz alte Variante ist. Einige Redaktionen sind dazu bereits übergegangen, zum Beispiel die BBC. Im neuen Gewand präsentiert sie in so genannten „Fact-Sheets“ bei der Berichterstattung über Großlagen den Stand der Dinge, wie es einst die Aufgabe von Nachrichten war:

Hier ist alles was wir wissen. Mehr nicht.

Es ist also überhaupt nichts neu daran, ausschließlich mit Fakten zu arbeiten und sie zusammengefasst an das Publikum weiterzureichen. Und wenn es notwendig ist, das nun unter einem anderem Etikett zu tun, damit wieder Tatsachen deutlich erkennbar von Mutmaßungen getrennt werden: Nur zu! Dann eben künftig zur vollen Stunde (oder wann auch immer es sinnvoll sein mag) eine „Fakten-Sendung“. Mehr nicht. Der Rest möge in anderen Formaten seine Plätze finden.

(Bild: Screenshot Phoenix)

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Redakteur und Sprecher

40 Kommentare zu “Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren

  1. […] Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren | Udo Stiehl […]

  2. Thorsten sagt:

    Etwas Ähnliches habe ich vor ein paar Tagen auf Facebook auch geschrieben. Die Reaktionen auf den Post haben gezeigt, zumindest in meinem Dunstkreis, dass niemand diese Art der Berichterstattung gut heißt. Wenn RTL und Co. zur Befriedigung ihrer Werbekunden so agieren ist das schlimm, bei ARD und ZDF finde ich das, gelinde gesagt, rechtlich mehr als bedenklich.

  3. Michaela Meyer sagt:

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    Liebe Leser,

    seit nunmehr gefühlten 30 Tagen vermisse ich „Nachrichten“ in den Medien.
    Was ich sehe und höre ist pure Hypothesenwischerei bis hin zur Ahnungslosigkeit.

    Mein Mitgefühl erhalten ganz sicher zu einhundert Prozent alle betroffenen Personen und Familien.

    Den halbwissenden „Hype“, den unsere Medienanstalten daraus entstehen lassen, kann ich leider nicht verstehen. Es erinnert stark an die sog. „Veramerikanisierung“ unserer Gesellschaft und trägt ganz sicher dazu bei, dass Schaulustige weiterhin mit Handys filmen, wenn irgendwo ein Unfall passierte.

    Ja, diese Art von Journalismus ist ein Aufruf an alle Schaulustigen, Fakten zu liefern!
    Wo bitte ist der Respekt und die Trauer gegenüber den Betroffenen?

    Psychologen werden sagen „Suchen Sie das Positive und lenken Sie sich ab“!

    Unsere öffentlich-rechtlichen Fernsehsender streichen dann aber mal kurzfristig die Satiresendungen „extra 3“ (ARD) und die „heute-show“ (ZDF).

    Das fördert ganz sicher positive Empfindungen, oder?

    btw.

    Wie viele Obdachlose verlieren seit Jahrzehnten im Winter eigentlich ihr Leben in Deutschland und wo sind da die Medien bitte? *grübel*

    Als Tipp für die Zukunft:

    Wir Leben im Internet-Zeitalter, wo es möglich sein sollte, dass jeder Arzt einem Arbeitgeber DIREKT mitteilen könnte, wie lange ein Arbeitnehmer arbeits- bzw. dienstunfähig ist! (Wieso soll der Arbeitnehmer einen sog. „gelben Schein“ abliefern müssen?)

    Aber das Internet, wissen wir ja alle, ist „Neuland“… Die Postkutsche fährt ja bald wieder.

    Herzliches Beileid allen betroffenen Personen und eine gute Besserung an die Medienlandschaft, Ärzte und Arbeitgeber und Krankenkassen.

    Auch, wenn es schier unglaubwürdig klingen mag:

    Das Leben geht weiter und das mit faktischer Sicherheit!

    MfG

    Michaela

  4. Hans-Jürgen Schild sagt:

    Außergewöhnliche und dramatische Ereignisse haben einen hohen Nachrichtenwert, dieser Umstand rechtfertigt aber nicht den wieder einmal bis zur Erschöpfung getriebenen Medien-Zirkus. Dieser beschädigt die Glaubwürdigkeit und Wertschätzung des Journalismus. Der sollte nicht zuerst auf Emotionen, sondern auf Fakten abzielen. Das gilt ganz besonders für den Nachrichten-Journalismus, der Neuigkeiten vermittelt und Zusammenhänge klärt.

  5. […] Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren | Udo Stiehl […]

  6. Peter Berger sagt:

    Sind wir da nicht auch mitschuldig? Oder bin ich der Einzige, welcher sich ertappt, nachdem er irgendwo etwas gehört hat, gleich online nach Nachrichten darüber zu suchen?
    Das ist mit Nachrichten nicht anders als – tja, z.B. mit Fleisch. Wir stürzen uns auf das preiswerteste Fleisch ohne danach zu fragen, woher es kommt und wie die Tiere gehalten werden. Würde der Handel das „schlechte“ Fleisch nicht mehr verkaufen können, verschwände es sofort aus den Regalen.
    Sänken die Einschaltquoten unserer Nachrichtensendungen oder blieben die Dispenser mit den schnellen Gratiszeitungen voll, dann müssten sich auch die Anbieter dieser Medien auf Neues oder vielleicht eher auf Altes besinnen.
    Ich verzichte seit Monaten auf Tagesschausendungen im Fernsehen. Mir ist damit nicht weniger bewusst, was in Syrien, der Ukraine etc. geschieht, aber ich will mir bewusst meinen Kopf nicht einfach von solchen Bildern und „Nachrichten“-fluten zumüllen lassen.

  7. Christian Müller sagt:

    Ein deutsches Flugzeug mit 150 Personen an Bord stürzte in den französischen Alpen ab.
    Seit zwei Tagen allgegenwärtig in sämtlichen Medien, wie Fernsehen, Radio, Zeitungen und Internetplattformen, die Frage – Was genau ist passiert?-
    Die Nachrichten berichten nicht, sie spekulieren und mutmaßen. Der Journalismus verkommt zur klatschspaltenfüllenden Prosa.
    Wenig bleibt da an Mitgefühl für die Angehörigen und Freunde der Verunglückten.
    Vage Vermutungen werden da brockenweise der hungernden Meute vorgeworfen. Alle stürzen sich darauf, zerren und ziehen an jedem Ende und bauschen so das Ganze noch mehr auf.
    Eine genaue Analyse braucht Zeit und vor allem den zweiten Flugschreiber.
    Auch wenn die Sensationsgier ins Unermessliche steigt, muss sich der Journalismus wieder auf die Fakten besinnen, die Nachrichten Ergebnisse präsentieren!
    Sollte dies auch erst in einer Woche oder einem Monat möglich sein, den Trauernden wird es helfen mit dieser traumatisierenden Erfahrung umgehen zu können und es irgendwann auch akzeptieren zu können.
    Schuldzuweisungen sind zum jetzigen Zeitpunkt völlig irrelevant und behindern nur den objektiven Blickwinkel auf das Geschehene.
    Selbst wenn alle Daten in ein paar Monaten ausgewertet sind, die Frage nach dem „Warum?“ werden auch diese nicht beantworten können.

    Winterthur, 26. März 2015. Christian Müller

  8. udostiehl sagt:

    Bitte nicht pauschal argumentieren. Es ist nicht die gesamte Medienlandschaft, die damit zu tun hat. Es geht im Beitrag speziell und ausschließlich um Begriff und Definition von Nachrichten und eine mögliche andere Herangehensweise an die Vermittlung von Fakten.

  9. Dina sagt:

    Danke. Du hast vollkommen recht. Schade um die deutsche Medienlandschaft.

  10. udostiehl sagt:

    Der Flugdatenschreiber wird noch gesucht. Und die Staatsanwaltschaft als die Ermittlungen leitende Behörde ist auch diejenige, die Ergebnisse der frz. Flugunfallbehörde bewertet und ggfls. veröffentlicht. Daran ist nichts ungewöhnlich.

  11. udostiehl sagt:

    Selbst wenn Volontäre oder Praktikanten in der Redaktion mitlaufen, schreibt das Vier-Augen-Prinzip vor, dass Meldungen gegengelesen werden. Außerdem muss der Chef vom Dienst die Meldung abnehmen. Vorher kommt nichts auf den Sender.

  12. udostiehl sagt:

    Was sollte das Interesse der Politik daran sein, in solchen Zusammenhängen Einfluss zu nehmen. Gelingt ja auch in anderen Fällen nicht, auch wenn das gerne immer wieder behauptet wird. Mir hat seit 18 Jahren noch keiner in die Sendung gepfuscht.

  13. Dazu kommt: Journalisten müssen endlich wieder hart nachfragen. Sie dürfen sich nicht von Offiziellen abspeisen lassen, sondern sollten alles hinterfragen und ggf. in Zweifel ziehen. Jenseits von Verschwörungstheorien stellen sich mir heute schon einige Fragen. Warum hat ausgerechnet die NYT eine (französische?) Quelle und kann den Scoop landen? Dann die schnelle PK mit dem vollen Namen, der wie ein Köder wirken muss. Was ist mit der anderen Black Box und deren Speicherchip? Und wieso teilt es ein Staatsanwalt mit und niemand von der für Flugunfälle zuständigen Behörde?

  14. Es ist nicht richtig, dass Medienunternehmen keine ausgebildeten Nachrichtenredakteure finden. Die gibt es derzeit wie Sand am Meer. Verbraten werden aber vielmehr „Na-Volontäre“ und sogar Praktikanten erklären dem Volk heute in 3 min die Welt. Niemand darf sich wundern, wenn dann Dinge wie „Gedenken an die“ zu hören bzw. zu lesen sind.

  15. harald sagt:

    Das haben Sie richtig gut geschrieben. Leider trifft fas von ihnen beschriebene nicht erst seit vorgestern zu – auch in dem von Ihnen beschrieben Ausmaß. Die sogenannten Experten widersprechen sich selbst dann auch noch. Es scheint so als könnten sie ihr Expertenwissen der Moderation anpassen. ICH bin mir sicher, die Politik hat den Durchgriff auf die öffentlich rechtlichen Medien.
    Danke für Ihre gute Analyse der Arbeit Ihrer Kollegen.

  16. […] nehmen. – Kritik am ARD-Brennpunkt 24.03.2015 zum Flugzeugabsturz (YouTube-Link) – Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren. Zitat: “Emotion überlagert Information und wird gewollt oder ungewollt zum […]

  17. udostiehl sagt:

    Zu den Politiker-Äußerungen sei angemerkt, dass sie gewählte Volksvertreter sind und damit natürlich auch für „das Volk“ sprechen. Stellen Sie sich mal vor, die würden nichts sagen!

  18. Bill sagt:

    Ich stimme zu. Zwei Punkte stören mich besonders bei der Berichterstattung: zuerst die Präsentation einer endlosen Schlange von Politikern, die Standard-Trauertexte von sich geben. Das war der Hauptfokus der Tagesschau – erst Merkel & Gauck, danach der Rest. Stellt man den Ton aus und ignoriert die Einblendtexte, sieht die Absturz-Tagesschau aus wie jede andere in den letzten Jahren. Politiker fahren vor, steigen aus, hasten irgendwo hin und stehen am Pult.
    Und wenn dann die Sondersendung kommt, befreit sich jeder von den Fakten und spekuliert wild drauf los – natürlich erst nach dem Hinweis, man solle nicht spekulieren (das macht ja den ÖR aus).

    Lesetipp: normalen Flug auf der gleichen Strecke anschauen.
    https://de.flightaware.com/live/flight/BER8565/history/20150325/1925Z/LEBL/EDDL/tracklog

  19. R. Schmidt sagt:

    Nachtrag: Ich bezog mich mit diesem Absatz auf Phoenix:

    „Als ich in einem Online-TV-Programm las, dass am Abend des Flugzeugabsturzes oder am Folgetag – ich weiß es nicht mehr – Sendungen über die X dramatischsten Flugzeugabstürze laufen sollten, dachte ich noch: Mist-Sendung, aber was für ein Pech, dass es auch noch ausgerechnet für heute geplant ist! Oder vielleicht wird es rausgenommen, steht aber halt noch im Programm… Ja, von wegen. Natürlich wurde das aus gegebenem anlass ins Progamm genommen… Unfassbar. Wobei, seit der allwöchentlichen Stammtischsendung von Augstein und Boome sollte mich eigentlich nichts mehr wundern.“

  20. R. Schmidt sagt:

    Sehr guter Text. Ich schaue nur öffentlich-rechtliches Fernsehen, wo leider dennoch in den letzten Jahren ein massiver Niedergang der journalistischen Qualität zu beobachten ist. (Auch z.B. in Dokus.) Ich bin da auch noch erschreckend naiv: Als ich in einem Online-TV-Programm las, dass am Abend des Flugzeugabsturzes oder am Folgetag – ich weiß es nicht mehr – Sendungen über die X dramatischsten Flugzeugabstürze laufen sollten, dachte ich noch: Mist-Sendung, aber was für ein Pech, dass es auch noch ausgerechnet für heute geplant ist! Oder vielleicht wird es rausgenommen, steht aber halt noch im Programm… Ja, von wegen. Natürlich wurde das aus gegebenem anlass ins Progamm genommen… Unfassbar. Wobei, seit der allwöchentlichen Stammtischsendung von Augstein und Boome sollte mich eigentlich nichts mehr wundern.

    Von der Dauer-Berieselung in der ARD, die zwischen Nichtinfos, Betroffenheitsbanalitäten und Sensationsgeilheit schwankt, mal ganz zu schweigen.

    Und ich habe langsam die Nase voll davon, dass der (potentielle) Konsument dafür verantwortlich gemacht wird, wenn die Medien ihrem Auftrag nicht gerecht werden.

  21. nona sagt:

    An Ereignissen wie diesem merke ich persönlich, wie sehr sich mein Medien- und Nachrichtenkonsum inzwischen geändert hat. Ich meide die „Nachrichten“ in Zeiten wie diesen, inklusive aller Sondersendungen und Ähnlichem. Denn man weiss aus Erfahrung nur zu gut, was für blödsinnige Automatismen dabei regieren, und ganz im Ernst: es nervt gewaltig.

    Teilweise ist dieser wie auch immer zu fassende Nachrichtendruck allerdings auch an der Quelle generiert. Gerade bei Flugzeugunglücken gibt es oft irgendwelche Offiziellen, die auf Pressekonferenzen versichern, dass natürlich „alles Erdenkliche“ getan würde, um die Ursache „so schnell wie möglich“ zu finden und mitzuteilen, also quasi am liebsten gestern. Das ist natürlich dummes Zeug, und unterstellt einen „öffentlichen Druck“ wo (wenn man die Öffentlichkeit mal fragt) eigentlich keiner ist. Der wird meistens eher von den Nachrichtenmedien herbeigeredet. Nein, die Aufklärung von Flugzeugunglücken ist ein sehr methodischer Vorgang und bedeutet zwingend sorgfältige Arbeit der Unfallermittler. Und das dauert je nach Umstand eben so lange wie es dauert, manchmal länger, manchmal nicht so lange, und kann auch schonmal zu nicht schlüssigen oder gar keinen Ergebnissen kommen.

    Umgekehrt hilft es dabei auch nicht unbedingt, wenn die Kanzlerin – ihres Zeichens nicht Experte für Flugunfallermittlung – anderer Leute Äusserungen zurückrudert und von Langwierigkeit und „schwierigen Ermittlungen“ wegen des ungünstigen Terrains und dergleichen redet. Die Ermittlungsbedingungen und die Sachlage just in diesem Fall könnten tatsächlich wohl nur dann besser sein als sie es sind, wäre der Airbus in einem freien Feld nahe Braunschweig abgestürzt.

  22. Eventuell ist auch die Anglisierung der Sprache mit Schuld – im Englischen wird von „News“ gesprochen, Neuigkeiteten. Für Nachrichten in unserem alten Sinn gibt es dort kein Wort.

    Eventuell hat sich das jetzt ins das Denken der Journalisten übertragen, und wir bekommen jetzt „Neuigkeiten“, wo früher „Nachrichten“ gemeint waren.

    Allerdings sagt Wikipedia dazu:

    „Laut dem Deutschen Wörterbuch ist die Nachricht eine „mitteilung zum darnachrichten“.[1] Seit etwa 1600 steht Nachricht für eine ‘Mitteilung’, Im 16. bis 18. Jahrhundert ist Nachrichtung für etwas ‘wonach man sich zu richten hat, Anweisung’ bezeugt, was aber allmählich verdrängt wird. Im Plural werden seit dem 20. Jahrhundert mit Nachrichten ‘(über Rundfunk, Fernsehen gesendete) aktuelle, besonders politische Meldungen’ bezeichnet.“

    D.h. es ging hier ursprünglich eher um Weisungen, als um Informationen, und in Bezug auf Rundfunk und Fernsehen ist es auch nur eine „aktuelle Meldung“, ohne weitere Betonung, dass die Meldung viel Inhalt haben muss.

  23. Fritz Iv sagt:

    Die Bezeichnung „Nachrichten“ war immer schon umstritten. Schon früher konnte man spotten, wie es nur möglich sei, dass jeden Tag genau für die 15 Minuten Tagesschau Nachrichten zur Verfügung stehen. Das Format neigt schon in seiner klassischen Form zu einer Orientierung an der Zeittaktung als solcher. Und mit dem Faktischen der Fakten gab es auch immer schon Probleme – gerade erst hat Norbert Häring eine Beschwerde gegen die Tagesschau gestartet, weil ein Reporter an allem Bekannten vorbei einfach die gefärbte, „offizielle“ Sicht berichtet hat, als würde es sich dabei um „Nachrichten“ handeln.

    Online werden die gewissen Mängel des klassischen Nachrichtenwesens nun aber quasi ins Absurde übertrieben. Warum? Weil dort die „Nachrichten“ nun ständig „strömen“ müssen, auch wenn sie eigentlich gar nicht strömen. Ein Nachrichtenticker verlangt ja per se nach möglichst häufiger Aktualisierung.
    Das war extrem absurd beim Focus im vorigen Jahr zu beobachten, als ein News-Ticker zu Schuhmachers Skiunglück eingerichtet wurde, der dann über Wochen (oder waren es Monate) weitergeführt wurde, ohne dass es irgendetwas mit Nachrichtenwert zu berichten gab. So auch jetzt beim Flugzeugunglück: Die News-Formate im Web verlangen Aktualisierungen, also immer wieder neue Impulse ins Netz hinein, also werden Impulse fabriziert.
    Interessant ist die Frage, wo das Verlangen herkommt? Es ist, vermute ich, weniger ein Verlangen des Publikums nach „mehr Info“ als ein Bedarf der Online-Seiten nach mehr Visits. Deshalb schmeißen sich die Medien wie einst nur die BILD auf solche Ereignisse mit anscheinend hohem Emotionswert, weil sich damit wenigstens für ein paar Tage die Visits hochschrauben lassen. Und wer da nicht mitmacht, fällt bei den nächsten Monatsdaten womöglich zurück – deshalb gehen da selbst als seriös positionierte Marken wie ZEIT oder SPON mit in die Leerlauf-Mühle der Ticker-News, Sofort-Kommentare und Twitter-Meldungen.

    Damit eilen die Medien dem Bedarf des Publikums wohl eher voraus. Es wird ja gerade jetzt an der Kritik der Berichtsexstase deutlich, dass die Nachrichten dem Publikum ein Vergnügen an Blödsinn unterstellen, das dort so stark auch wieder nicht vorhanden ist.
    Die „Schuld“ tragen aber nicht Redakteure und Reporter – die wissen durchaus, was Nachrichten sind. Die Ursachen liegen in der „Ver-Streamung“ aller Nachrichten (Verzeihung für dieses Ballhorn) und in den Finanzierungsstrukturen der Web-News. Auf der Website der ARD geht es anders zu – logisch, die haben es ja auch nicht so nötig, außer wenn sie „Sondersendungen“ veranstalten – da geben die Sender dann aufs Haar den gleichen unseligen Eindruck ab wie die Webformate, weil sie eben auch vor allem Quote machen wollen. Und es sind genau die gleichen Redakteure, die sonst „faktische“ Nachrichten verantworten.

  24. Kompetenz, Sachlichkeit, Qualifizierung von Nachrichtenredakteuren… hach, Udo, das klingt alles so herrlich altmodisch! Stimme 100prozentig zu.

  25. ujf99 sagt:

    @OLtime: Die Witwenschüttler – in diesem Fall Elternschüttler – waren nie so empathielos wie heute. Und es gibt mehr denn je von ihnen. Als ich meinen Beruf lernte, gab es in München davon vielleicht drei, weil es drei Boulevardblätter gab. Der Schnellste von ihnen fuhr kurz beim Polizeipressesprecher vorbei, um dann sagen zu können: „Ich komme“ (gerade eben) „von der Polizei.“

  26. Kai Oelschläger sagt:

    Es ist ein Flugzeug abgestürzt, ja. Für viele Menschen, in erster Linie für die Angehörigen der Opfer kann das einen tiefen Einschnitt ins Leben bedeuten. Da, und nur da kann ich die Trauer und das Leid begreifen. Wenn ich aber einen Blick auf die heutige Presse werfe, zeigt sich mir das was unausweichlich kommen musste. Eine Betroffenheitsorgie die durch die sensationsgeile Presse an den sensationsgeilen Bürger weiter getragen wird.
    Es war abzusehen, dass diese Schlacht um das spektakulärste Foto, das bewegendste Interview beginnen würde. Bei „Bild.de“ liegen die Nerven blank: dort fragt man sich schon zum jetzigen Zeitpunkt warum keine Staatstrauer angeordnet wird anstatt „nur“ die Flaggen auf Halbmast zu zeigen. Außerdem gibt es laut „Bild“ einen geheimen Unfallbericht an die Bundesregierung, der so geheim ist, dass man für den Artikel bezahlen muss…
    Ranghohe Politiker, auch Frau Merkel, eilen zum Unfallort um…ja, warum eigentlich?
    „Deutschland, Frankreich und Spanien stehen unter Schock“ heißt es. Obama glaubt nicht an einen Terrorakt und der Bürgermeister von Haltern kann sein Redemanuskript nur durch einen Tränenschleier erkennen und bringt mühevoll mit brüchiger Stimme „Nichts wird mehr sein, wie es war“ heraus. Alles wird bis aufs kleinste seziert. Die letzte Pizza die die Schüler gegessen haben, das letzte Lebenszeichen vom Handy.
    Sarkastisch? Ja! Besonders angesichts der Tatsache, dass Tag für Tag tausende Menschen, darunter besonders viele Kinder denen nicht einmal die kleinste Perspektive auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben gegeben wurde, sterben… Nein, besser gesagt verrecken! Alles unter unseren Augen. Mit unsrem Wissen und vollem Bewusstsein. Aber das ist weit weg. Aufmerksamkeit wird in Entfernungen gemessen es sei denn wirtschaftliche Interessen spielen eine Rolle. Und hier ist jetzt die ganze Nation geschockt, Sogar Google hat ein Doodle extra auf die Startseite gesetzt. Eine schwarze Schleife die Mitgefühl ausdrücken soll. Ein Milliarden schwerer Konzern. Wer wird als nächstes auf das Betroffenheitskarussel aufspringen? Mir ist das alles zu unausgegoren, zu oberflächlich, zu heuchlerisch oder einfach nur verlogen.
    Ein Flugzeug ist abgestürzt, ja, schlimm genug. Ich bin nicht geschockt. Nur angewidert.
    Bin ich gefühlskalt?

  27. […] was gemeinhin und besonders in Katastrophen- oder Unglücksfällen Nachrichten genannt wird. “Die Bezeichnung Nachrichten hat ihren Wert verloren“, schreibt er. Ganz besonders unterstreichen möchte ich diesen […]

  28. Ingo sagt:

    Sehr guter Artikel, kann dem nur zustimmen.

  29. Ingo sagt:

    Hat dies auf INGO VOGELMANN rebloggt und kommentierte:
    Kann Udo Stiehl nur zustimmen und habe dem sonst nichts hinzuzufügen.

  30. udostiehl sagt:

    Oder es wäre zwei Drittel mehr Platz für weitere relevante Themen.

  31. Ich bin auch der Meinung, daß die meisten Nachrichten diesen Namen nicht verdienen. Ein anderes Beispiel: Als das DOSB-Präsidium am 16. März tagte, um am Abend eine Empfehlung für Berlin oder Hamburg als Austragungsort für Olympische Spiele auszusprechen, waren diese Tagung und Spekulationen über ein Ergebnis schon morgens früh die Nummer eins in allen sog. Nachrichten, obwohl sie bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses am Abend keinerlei Nachrichtenwert hatten. Wenn man in den Nachrichten nur Fakten berichten und alle Meldungen streichen würde, in denen es nur um Willensbekundungen und Absichtserklärungen, Spekulationen und Mutmaßungen geht, würde sich die Sendedauer um mindestens zwei Drittel verkürzen.

  32. yuluschka sagt:

    Hat dies auf wOrteXot rebloggt und kommentierte:
    danke dafür!

  33. Endlich lese ich mal was dazu, wo ich zustimmen kann. Ich will nicht als herzlos erscheinen, aber einen Flugzeugabsturz, der ein ganz normales Unglück war, kein Terrorakt, kein Superverbrechen, in stundenlangen Brennpunkten und Sondersendungen auszuschlachten, finde ich einfach widerlich. Ich als Konsument muss nicht bis ins kleinste Detail über alles aufgeklärt werden – bei den meisten ist es doch eh nur Sensationsgier, weil wir ja mit Katastrophen und dergleichen schon so übersättigt sind. Jeden Tag sterben Hunderte, vielleicht sogar Tausende an Hunger, Kampfhandlungen, Terrorakten, Naturkatastrophen und anderem und an vielem davon ist der Mensch wirklich Schuld daran. Hier ist der Mensch vielleicht indirekt Schuld, weil die Pilotencrew was versäumt hat.
    Wenn man aber diesen gierigen „Nachrichten“verschlingern sagen würde, die Flugpreise werden drastisch teurer, damit die Sicherheitsvorkehrungen wesentlich verbessert werden können – dann möchte ich das Geschrei hören.

  34. […] Stiehl findet derweil alles schrecklich. Jedenfalls alles, was mit Nachrichten zu tun hat. “Mangelnde Qualifikation”, “Sinnloser Geschwindigkeitswahn”, […]

  35. Dem ist wenig hinzuzufügen. Was ich jedoch bei der aktuellen Diskussion vermisse ist die Verantwortung der Konsumenten von Trash- oder Nicht-Nachrichten. Ist es nicht so, dass ein Großteil der Leser eben nach solchen giert? Was Klicks und Quote bekommt, das wird produziert. Das sieht man selbst anhand der SPON-Linkliste zu Beginn des (an sich sehr lesenswerten) Beitrags von Sascha Lobo zum Thema.

  36. udostiehl sagt:

    Das ist ein wichtiger Punkt und zeigt, wie wichtig es wäre, endlich Medienkompetenz als Schulfach einzuführen.

  37. Dem ist wenig hinzuzufügen. Was ich jedoch bei der aktuellen Situation vermisse ist die Verantwortung der Konsumenten von Trash- oder Nicht-Nachrichten. Ist es nicht so, dass ein Großteil der Leser eben nach solchen giert? Was Klicks und Quote bekommt, das wird produziert. Das sieht man selbst anhand der SPON-Linkliste zu Beginn des (an sich sehr lesenswerten) Beitrags von Sascha Lobo zum Thema.

  38. OLtime sagt:

    Danke für diesen Beitrag. Besonders verwerflich finde ich den Umstand, dass die Medien unbedingt Fotos / Videos von SchülerInnen aus Haltern meinen bringen zu müssen. Wenigstens ein bischen, notfalls mit ein wenig Abstand, aber man kann doch nicht gar nichts… Doch kann man. Muss man. Das Verhalten ekelt mich an.

  39. Danke, gefällt mir!! Und jetztt?

  40. Matthias Sitzler sagt:

    Feiner Text, I agree.

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