Dramatisches Drama

Es ist kein neues Phänomen, dass Emotion in Nachrichten Einzug gehalten hat. Die Befürworter argumentieren, die Story rücke so näher an den Hörer, Zuschauer oder Leser – es mache die Nachricht „persönlicher“. Die Gegner, zu denen ich mich zähle, sehen das Neutralitätsgebot in Nachrichten verletzt und vermuten gelegentlich dahinter Effekthascherei. Sei es drum, die Medienlandschaft ist Vielfältig und es gibt Platz genug für unterschiedliche Stile. Ein neuer Trend jedoch geht einen Schritt weiter. Zu weit.

„Bis zu 50 Flüchtlinge in Schlepper-LKW erstickt“,

rauschte als Schlagzeile durch die Medien – und in diesem Fall waren es tatsächlich fast alle Redaktionen, die in dieser oder ähnlicher Form ihre Eilmeldungen herausschickten. Selbst die österreichische Polizei bediente sich dieser Wortwahl und sprach von „bis zu 50 Toten“. Nur selten waren zurückhaltende Formulierungen zu finden, obwohl eine genaue Zahl zu dem Zeitpunkt nicht bekannt sein konnte. „Viele Tote“ oder „mehrere Tote“ schrieben nur diejenigen, die sich offenbar die Mühe gemacht hatten, zu recherchieren und die schnelle Schlagzeile mit „bis zu 50“ hinterfragten.

Warum ist die Verlockung so groß, eine ohnehin schreckliche Story sofort zu dramatisieren? Im Verlauf der Berichterstattung wurden erste konkrete Zahlen genannt und es war von „mindestens 20 Todesopfern“ die Rede. Die Polizei hatte selbst nur schätzen können, wie viele Leichen sich auf der Ladefläche des LKW befanden – „die Zahl 20 werde voraussichtlich überstiegen“, lautete die Formulierung eines Ermittlers auf der Pressekonferenz. Es könnten aber auch „30, 40 oder sogar 50 Tote sein“, fügte er hinzu.

Trotz dieser vagen Schätzung blieb die Zahl 50 in Umlauf. Natürlich stets verbunden mit „bis zu“, aber beim Leser, Hörer oder Zuschauer bleibt meist eh nur die Zahl hängen – ohne Zusatz. Und wir reden hier nicht von irgendeiner Zahl. Es geht um Menschen, in diesem Fall Leichen. Selbstverständlich gehört es zu einer solchen Meldung, auch darüber zu berichten, dass möglicherweise eine höhere Opferzahl zu befürchten ist. Aber muss das zur Schlagzeile werden?

Sind wir so abgestumpft, dass es nicht ausreicht, von „mindestens“ zu sprechen? Oder halten wir unser Publikum vielleicht für so verroht, dass wir glauben, nur noch mit Maximalformulierungen Aufmerksamkeit zu finden? Beides halte ich für eher unwahrscheinlich, ausschließen lässt es sich natürlich nicht. Meine Vermutung ist eine andere:

Es war wohl einmal mehr der Herdentrieb der Redaktionen verantwortlich für das pietätlose Schlagzeilen-Schauspiel. Schnell muss es gehen, möglichst der erste mit der Eilmeldung sein, rasch die Zeile kopiert ins Redaktionssystem und abschicken. Und: Die anderen machen es doch auch, ein Blick auf die Timeline bei Twitter oder in die Nachrichtenseiten der Konkurrenz zeigt es doch – überall steht die „50“. Wie sieht das aus, wenn wir da mit „mindestens 20“ ankommen?

Dieses Phänomen des Herdentriebs kommt – sicher auch dem Zeitdruck geschuldet – immer häufiger vor und kann auch alte Geschichten oder gar Falschmeldungen ganz schnell in Umlauf bringen. Denn alle berufen sich jeweils auf die anderen, die das doch auch melden. Bei Todesmeldungen herrschte aber bisher stets mehr Umsicht, es wurde nach der Regel gearbeitet: Man sollte keine Toten zurücknehmen müssen. Deshalb galt, immer die kleinste Zahl zu nennen und mit einem „mindestens“ zu versehen.

Sollte sich der heute erlebte Trend durchsetzen, würden Spekulation und Dramatisierung wohl bald zum Standard von Schlagzeilen erhoben – und das hat mit nachrichtlicher Berichterstattung nichts mehr zu tun. Mir geht das zu weit.

Nachtrag: Einen Tag später hat die österreichische Polizei bekannt gegeben, dass aus dem LKW 71 Leichen geborgen wurden. Im Rückblick mag das dazu verleiten, den Umgang mit den zunächst genannten Zahlen – insbesondere die Formulierung „bis zu 50 Tote“ – zu rechtfertigen. Ich gebe aber zu bedenken, dass es auch anders hätte ausgehen können und weniger als 50 Leichen geborgen werden. Deshalb bleibt es bei dem Appell, Spekulationen nicht zu Schlagzeilen zu machen. Auch wenn in diesem Fall die anfängliche Vermutung noch übertroffen wurde.

Nachtrag: Das Hetzblog „Propagandaschau“ hat den Text offenkundig nicht verstanden oder missversteht ihn absichtlich. Das Ergebnis ist eine Denunzierung meiner Person:

Screeenshot "Propagandaschau"

Screeenshot „Propagandaschau“ vom 28.08.2015

Über udostiehl

Redakteur und Sprecher

4 Kommentare zu “Dramatisches Drama

  1. Schon ein einziger toter Flüchtling ist einer zuviel. Andererseits – unter den Flüchtlingen sind ja keine Deutschen. Da ist es schon weniger nah am (deutschen) Hörer, weniger persönlich. weniger dramatisch. Und dann wird die falsche Nationalität eben durch die Masse kompensiert …

  2. ofue sagt:

    …leider muss ich den Trend der Dramatisierung des Dramas bestätigen. Auch beim öffentlich-rechtlichen wird im Wettlauf mit der Konkurrenz immer mehr der Superlativ gewählt – schneller, lauter, höher, besser – ein Wettbewerb zu Lasten von Qualität und Seriosität. Der Bildungsauftrag wird zu Gunsten von Quoten vernachlässigt. Ein Trend, den man auch als Nachrichtenredakteur nur schwer entgegen treten kann….

  3. hhaien sagt:

    Ja man hätte ja auch schreiben können, das mindestens 1 Flüchtling gesundheitliche Schädigungen erlitt…

    Im Übrigen richtet sich die Kritik bei der Propagandaschau nicht direkt an Deine Person, sondern an der hier vertretenden Ansicht, das man solche Ereignisse – sagen mir mal – von den Folgen her etwas harmloser darstellen sollte. Motto: Alles nicht so schlimm. Bedauerlicher Unfall. Liebe Flüchtlinge, Ihr könnt ruhig nochmal diese Methode benutzen. Vielleicht habt ihr ja Glück.

    Statt Kritik an der Opferzahlberichterstattung, sollte man lieber Kritisieren, das über die wirklichen Hintergründe und Ursachen der Fluchtbewegung nichts berichtet wird.

  4. K.K. sagt:

    „würden Spekulation und Dramatisierung wohl bald zum Standard von Schlagzeilen erhoben“
    .
    In welcher Traumwelt lebt der Verfasser, dass er hier die Möglichkeitsform mit der Umschreibung „würde“ & „wohl bald“ verwendet? Die Spekulation und Dramatisierung IST der Standard bei den meisten Blätter. Schon immer.

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