Das Milchmärchen vom Milchmädchen

In Deutschland haben türkische Staatsbürger über Verfassungsänderungen in der Türkei abgestimmt. Die Wahlbeteiligung war nicht gerade rekordverdächtig, aber das ist sie bei hiesigen Wahlen auch nicht immer. Interessanter ist, was aus den Daten alles herausgelesen und hineininterpretiert wird. Das ist nahezu märchenhaft.

Es war einmal ein Milchmädchen, das hatte schon lange Zeit den Verdacht, die Kolleginnen ihrer Zunft würden zu Unrecht der Falschrechnung bezichtigt. Seither führte es einen großen Taschenrechner mit sich. Und das Milchmädchen las regelmäig Zeitung:

63 Prozent der Türken in Deutschland für Präsidialsystem

stand da in großen Lettern zu lesen. Was?! So viele? Sie erwog gerade, ihre Ayran-Becher verkaufsfördernd mit „Erdoran“ zu beschriften, als sie einige Seiten weiter feststellen musste:

Das bedeutet unterm Strich: 412 000 von 2,8 Millionen Deutsch-Türken stärkten Erdogan den Rücken.

Also doch keine Mehrheit, nur so wenige? Dann vielleicht doch besser „Erdowahn“ auf die Becher drucken und reißenden Absatz finden? Der große Taschenrechner musste her. Schließlich galt es, einen Ruf zu verteidigen. Das Milchmädchen trug alle offziellen Zahlen zusammen:

  • 2,8 Millionen Türkeistämmige in Deutschland
  • davon 1,43 Millionen wahlberechtigt für das Referendum
  • 46 Prozent Wahlbeteiligung = 660.000 aktive Wähler
  • davon 63 Prozent Ja-Stimmen = 412.000 aktive Wähler

Potzblitz! Wenn das so war – wie stand es dann um die deutschen Kunden? Hatte das Milchmädchen doch eben erst von einer sehr teuren Agentur die Produktlinien „Muttis Rautenrahm“ und „Meierei Stein“ entwickeln lassen. „Wortspiel, verstehen Sie?“, hatte der Kreativst-Kreative geprustet. Die werden doch wohl nicht an den Zahlen gedreht haben? Moment:

  • 80,8 Millionen Einwohner in Deutschland
  • davon 7 Millionen ohne deutsche Staatsangehörigkeit
  • also 73,8 Millionen „Deutsche“
  • davon 61,9 Millionen Wahlberechtigte
  • 72,4 Prozent Wahlbeteiligung = 44,8 Millionen Wähler
  • Davon 41,5 Prozent Union = 18,6 Millionen Wähler
  • 25,7 Prozent SPD = 11,5 Millionen Wähler
  • 8,6 Prozent Linke = 3,9 Millionen Wähler
  • 8,4 Prozent Grüne = 3,8 Millionen Wähler

Rasch schlug das Milchmädchen im Marketingkonzept der Agentur nach. Da stand es doch:

„67 Prozent der Deutschen für Große Koalition“

Und nach wenigen Rechenschritten ergänzte es die Überschrift um eine handschriftliche Notiz.

„Das bedeutet unterm Strich: 30 Millionen von 81 Millionen Menschen in Deutschland stärkten Schwarz-Rot den Rücken.“

Das hatte das Milchmädchen zwar noch nie in der Zeitung gelesen – aber es war der Trumpf im nächsten Gespräch mit der Agentur. Die haben direkt unterschrieben.

Als PR-Mädchen kommt es seitdem noch viel mehr rum und erzählt jedem Kunden einfach das, was er hören will.

 

(Daten von Tagesschau.de zur Bundestagswahl 2013, Statistisches Bundesamt, Frankfurter Rundschau; Bild: privat)

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Redakteur und Sprecher

2 Kommentare zu “Das Milchmärchen vom Milchmädchen

  1. DJ Doena sagt:

    Was pitpitpat angesprochen hat stößt mir auch immer sauer auf. Da sagen dann Mitglieder der Regierungskoalition (egal welcher), der Wähler (singular) hätte dieser Regierungskoalition seinen Segen gegeben. Dabei hab ich noch niemals nicht bei einer Bundestagswahl für eine Koalition stimmen dürfen.

  2. pitpitpat sagt:

    Vielen Dank, diese Rechnung noch mal auseinander genommen zu sehen, hilft bei der Einordnung doch sehr. Eine Kritik an der Kritik hätte ich aber noch, denn meiner Meinung nach stecken in dem Satz ‚67% der Deutschen für eine große Koalition‘ zwei Fehler und beide gleich schlimm: Man weiss schlicht nicht, ob 11,5 Mio SPD Wähler und 18,6 Mio CDU Wähler sich eine große Koalition wünschen und ich finde es dreist, wenn dass Zeitungen ohne weitere Überlegungen so schreiben. Das ist auch beliebtes Spiel an Wahlabenden und den Tagen danach: ‚Der Wähler wünscht sich X‘; Sie treten den Wählerwillen mit Füßen‘ u.v.a.m.

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